Ohne Titel, 2017 (Haus Konstruktiv Nr.4)
Neulich war ich im Kunsthistorischen Museum in Wien und sah mir einmal wieder
nach langer Zeit die „Infantinnen“ von Velazquez an. Die „blaue Infantin“ – „Die
Infantin Margarita in einem blauen Kleid“ von 1659 – finde ich am schönsten.
Dieses Bild vergesse ich auch nicht. Es ist perfekt komponiert und gemalt, aber
es gibt eine Stelle, die offenbar nicht stimmt. Sie scheint erstaunlicherweise für
Velazquez nichts darzustellen, sie passt auch farblich in ihrem rotstichigen Van
Dyck-Braun nicht zu dem blau-grünen Grundton. Auch ein Schatten kann das
nicht sein, es ist einfach nur ein Wischer, im Verlauf noch dazu amateurhaft
genau parallel zur rechten Kontur der Krinoline, die die Infantin trägt. Das ist der
Fehler im Bild, der es unvergesslich macht. Ohne diesen Fehler wäre die Infantin
nicht so schön. Auch mein Lieblingsbild von Carin E. Stoller – ein Interieur aus
dem Haus Konstruktiv in Zürich „ohne Titel 2018“– hat einen solchen Fehler.
Diese in einem unfrischen, stumpfen, petroligen Französischgrün mehr
angestrichenen als gemalten Kuben, welche räumlich völlig unlogisch von rechts
ins zentralperspektivische Bild ragen, dominieren den zweiten Eindruck. Beim
ersten könnte man fast übersehen, dass sie nicht „stimmen“. Denn der erste
Eindruck zeigt fast wie auf einem Foto, welches als Grundlage und Ausgangspunkt
dieses Öl/Acrylbildes diente, das Interieur eines Cafés mit drei hintereinander
stehenden typischen, runden Caféhaustischen mit offenbar gläsernen
Tischplatten, in denen sich die Umgebung, vor allem aber die Flaschenvasen mit
Ranunkeln spiegeln, die als Zimmerschmuck auf ihnen platziert wurden. Es gibt
die Dinge also mehrfach – den Tisch dreimal, die Vase zweimal und auch den
angesprochenen Kubus zweimal. Damit ist ein Programm von Identität und
Unterschied der Gegenstände eröffnet, der die Bildkomposition zugleich in der
Vertikalen rhythmisiert. Obwohl das Thema „Museumscafé“ besonders für einen
Fotografen sicherlich interessant wäre, ist es für dieses Beispiel irrelevant. Es
geht hier nicht um die Besonderheit des Museumscafés des Hauses Konstruktiv
in Zürich, sondern um die der rhythmisierten Farbverteilung eines heißen
Rotorange und eines kühlen Blaugrün in einer räumlichen Konstruktion aus
grauen runden und eckigen Formen. Die Spiegelungen sind dabei nicht Anlass,
um in Illusionsmalerei zu schwelgen, wie das bei einem solch schwierigen Sujet
naheliegend wäre, sondern das Mittel der Vernetzung des Konkreten von Blume,
Flasche, Tisch, Wand und Boden mit den Abstrakta Farbe, Fleck und Duktus,
indem sie die realen Formen in gegenständliche Lineaturen und Flecken
verlängern und so zu Superzeichen werden lassen. Innerhalb dieses Spiels mit
den selbstwertigen Gesetzen der Malerei an sich sind diese grünen Kuben keine
Störelemente. Man denke sie sich weg! Ohne sie verlöre dieses Bild augenfällig
die Energie, die es mit ihnen besitzt. Das Bild ist nämlich farblich perfekt
ausponderiert, die Farbverteilung ist raffiniert: das Anthrazitgrau schafft mit dem
spärlicheren Weiß genügend Helldunkel-Kontrast in dem relativ großformatigen
Bild – je größer das Format, umso wichtiger wird dieser Kontrast, das weiß die
Malerin. So strahlt das schmale Hochformat aufgrund des Übergewichts eines
kalten Grau und Grün eine insgesamt kühle Ästhetik aus. Deshalb aber beißt das
grelle Rotorange regelrecht desto mehr in die Augen. Fast scheint es so, als wäre
der gesamte Rest an Bild nur dafür da, diesen Effekt zu erzeugen. Es erinnert
mich darin an einige Zeilen aus Antonin Artauds Aufsatz über Van Goghs
Schwarz in seinem letzten Bild – das es nicht war – „Krähen über einem
Kornfeld“ von 1890: „Kein anderer Maler als Van Gogh hätte, um seine Krähen zu
malen, dieses Trüffelschwarz finden können, dieses Schwarz seines
reichhaltigen Banketts und gleichzeitig das exkrementähnliche Schwarz der
Krähenflügel – überrascht vom sinkenden Abendlicht.“ (Van Gogh, der
Selbstmörder durch die Gesellschaft, S. 19) emphatischer kann man gar nicht
ausdrücken, dass Farbe selbst der Inhalt von Malerei ist. Dieses müde
schabzigerhafte Blaugrün paart sich im Bild von Carin E. Stoller mit dem
blumenfleischfarbenen Kolorit der Ranunkeln zu einem ungewöhnlichen wie in
die Länge gezogenen Komplementärkontrast, während im Vordergrund dem
Betrachter das beinahe schmerzhafte Rotorange ins Auge sticht, welches im
Goldocker der linken unteren Ecke seinen raumbildenden Ursprung hat.
Virtuose Malerei in raffinierten Verschränkungen! Voller Fehler!
Zauberhaft und unvergesslich!
Christoph Hessel, Printmaker
„..auch in der Malerei von Carin E. Stoller
vollzieht sich das Oberflächliche, Gegenwärtige zunächst im Vordergrund.
Ihre Bilder wirken auf den ersten Blick beinahe illustrativ, wie Ausschnitte aus
einem Restaurantführer, aus einem Genuss-Guide. Und diese Einblicke machen
uns auch tatsächlich Lust am Schauen. Wir haben es hier - und das können wir
gar nicht vergessen - mit sinnlicher Malerei von unglaublich delikater Farbgebung
zu tun, die auch ohne jede Interpretation allen ästhetischen Ansprüchen genügt.
Aber je länger wir uns dieser Sinnlichkeit überlassen, desto mehr wird unsere
visuelle Erfahrung auch auf die Probe gestellt, denn was auf den ersten Blick eine
fröhliche Augen- Reise durch altbekanntes Terrain verspricht, entpuppt sich als
abenteuerliche Expedition, bei deren wildem Wechsel der Ebenen der Blick leicht
einmal den Halt verliert. So kann unser Blick schnell ins Rutschen kommen, wenn
sich die Perspektiven lustvoll dehnen oder sich in den Flächen der Flüssigkeiten
brechen und gegeneinander reiben; wenn in den spiegelnden Oberflächen der
Gläser und Besteckteile sich die Dinge gegenseitig reflektieren und sich zugleich
mit der Kolorierung des Untergrundes vermischen, bis eine eindeutige
Gegenstandsbezeichnung nicht mehr möglich ist, weil sich zugleich die
Dimensionen verunklären und wir uns auch in einem futuristischen Makrokosmos
befinden könnten. Obwohl die Künstlerin letztendlich die figurative Erkennbarkeit
nie gänzlich verlässt, bildet ihr Universum mit seinen Verschlingungen und
Verknotungen doch eine Parallelwelt, in der die üblichen physikalischen
Ordnungen der Schwerkraft, der sichtbaren Gewissheit und der Durchmessbarkeit
des Raums ihre Gültigkeit zu verlieren drohen und sich uns die Utensilien im
Geschirrkorb mit ihren blinkenden und spiegelnden Oberflächen als Gefährt
anbieten, mit ihnen auf eine verlockende Augenreise zu gehen. Am Ende ist uns,
als befänden wir uns in einem Raum, der an die Randbereiche des Traums führt,
an eine somnambule Zone zwischen Traum und Tag, kurz vor dem Erwachen. Im
allgemeinen behält man vom Traum nur, was von seinen oberflächlichen Schichten
stammt. Was uns aber hier in unseren Augenwinkeln hängen bleibt, ist das, was
sonst beim Erwachen untergeht, alles das, was nicht Übriggebliebenes ist vom
vorhergehenden Tag, was sich nicht verselbstständigt hat in Erinnerung,
Einbildung und Emotion. All das also, was sich nicht performativ aufdrängt,
sondern im Wartezustand einer verunsichernden Latenz verbleibt. Man könnte
deshalb die Künstlerin durchaus mit einigem Recht als „fraudeur“ bezeichnen,
als Unterbrecherin unserer Wahrnehmungs-Fixierung auf
Oberflächenkonstellationen, als Störerin, die uns in den Möglichkeitsraum
der Kontingenz weiterscheuchen will.
Sie widerspricht unserer Gegenwart, indem sie sie erweitert
und mit der Zukunft wie mit der Vergangenheit verknüpft.“
Franz Schneider
Kurator der Neuen Galerie Landshut,
zu den neuen Bildern von Carin E. Stoller
in der Ausstellung im Malura Museum 2017
In the paintings of Carin E. Stoller…
…everything superficial, everything that happens is present in the foreground. At first sight, her paintings
look almost like illustrations, like details from a restaurant guide, from a gourmet guide.
And it’s these details that make us want to take a closer look. We become aware that we have a
sensuous style of painting here, with an incredibly delicate coloration that satisfies all aesthetic
expectations and requires no interpretation.
But the longer we give ourselves up to this sensuality, the more it challenges our visual experience for,
while at first sight it promises a joyful visual journey through well-known territory, it turns into an
adventure where wild journeys between different levels can easily lead the eye astray.
Our gaze glides across the changing and shifting perspectives of the sliding liquid expanses; the reflective
surfaces of the glasses and cutlery mirror each other and melt into the background coloration, making
any clear identification impossible. All dimensions blur into each other, making the whole thing appear
to be a futurist macrocosm.
Despite never quite leaving the realm of figurative definition, the artist’s universe with its loops and
knots represents a kind of parallel world in which the usual physical properties of gravity, of visible
certainties, of spatial measurability, lose their meaning; the glittering and reflective utensils on the
draining board offer themselves as vehicles for a tempting visual voyage.
In the end we feel as if we were in a space that is close to dreaming, in a somnambulist twilight zone, a
state between dreaming and waking. On awakening, we generally only retain what is on the very surface
of a dream. Here, in these paintings, our eyes perceive all that normally disappears as we awake, instead
of what is left from the day before, of what our memory, our imagination and emotions have conjured
up. We see things that aren’t the performance itself but remain in a kind of shimmering latency.
One may be tempted to see the artist as a sort of “finaigeur”; she interrupts our preoccupation with
what we perceive on the surface, she wants us to move on into a space of contingency, of expectation.
She contradicts our present by expanding it and linking it both to the future and the past.
Franz Schneider, NGL Landshut
“Untitled”, 2018 (Haus Konstruktiv Nr.4)
I went to the Kunsthistorisches Museum in Vienna recently, and revisited, after a very long time, the
Infantas by Velazquez. The blue Infanta, the “Infanta Margarita in a Blue Dress” from 1659, was the one I
liked best. I will never forget this painting. Both the composition and the painting are perfect, but there
is a bit of the picture that is flawed. Velazquez, amazingly, seems to have ignored it, its reddish Van Dyck
brown colour seems to jar with the blue-green overall tone. It doesn’t appear to be a shadow, it is simply
a smudge that follows the right-hand outline of the crinoline the Infanta is wearing with amateurish
precision. It is this flaw that makes the picture unforgettable. Without this flaw, the Infanta would be less
charming.
My favourite painting by Carin E. Stoller, an Interior from Haus Konstruktiv in Zurich, “Untitled 2018”,
contains one such flaw. These cubes, painted – or rather, decorated - in a dull cyan-hued French Green,
intrude in a spatially illogical way into the central perspective from the right hand side and dominate the
second viewing. On first viewing, one could almost miss this incongruity, as this oil/acrylic painting shows
the interior of a café that, almost like its photographic source, depicts three typically round coffee-
house tables, one behind another, apparently with glass table tops that reflect decorative bottles, each
containing a single flower, a ranunculus. All these objects appear several times: three tables, two vases,
and two of the above mentioned cubes.
Thus, a programme of identity and difference of the objects is opened that coincidentally creates a
vertical rhythm in the painting’s composition.
The topic of the museum café may be interesting for a photographer, but it is irrelevant in this instance.
This is not about the physical features of the café in Zurich’s Haus Konstruktiv, it’s all about the rhythmic
application of colour: a hot red orange, and a cool blue green in a spatial construction around round and
square shapes.
These mirrored reflections are not used as an opportunity to wallow in painted illusions, something that
might be tempting in a difficult subject like this one. They are a means to link the concrete flower, bottle,
table, wall and floor with the abstract of colour, splash and flow, by extending the real shapes into non-
representational lines and splashes, thus turning them into metasigns.
On the background of this playing with painterly rules the green cubes are by no means a disruptive
element. Imagine them gone! Without them the painting would immediately lose the energy they add to
it. For the colours in this picture are perfectly calibrated, their distribution ingenious: the anthracite grey,
along with the sparingly used white, creates sufficient light/dark contrast in this quite large painting and
the artist is aware that the larger the painting, the more important the need for contrast becomes. Due
to its dominating cold greys and greens, the narrow upright format of the picture radiates a cool
aesthetic, turning the luridly orange-red colour almost into an attack on the eyes. You might think that
the rest of the painting only serves the purpose of achieving this effect. I am reminded of some lines
from Antonin Artaud’s essay on Van Gogh’s use of black in his last painting – which it wasn’t –
“Wheatfield With Crows” from 1890: “But no other painter besides Van Gogh would have known …how
to find that truffle black, that ‘rich banquet black’, which is at the same time, as it were, excremental, of
the wings of the crows surprised in the fading gleam of the evening.” (Van Gogh, The Man Suicided by
Society, 1947). A more emphatic statement cannot be made on colour being itself the subject matter of
a painting.
This muted, skimmed-milky blue green combines in Carin E. Stoller’s painting with the flowery-fleshy hue
of the Persian buttercups into an unusual, extended, complementary contrast while in the foreground
the viewer’s eye is stung by the almost painful orange-red that has its spatial origin in the bottom left
golden ochre.
Virtuoso painting art with its sophisticated clashes! Full of flaws! Magical and unforgettable!
Christoph Hessel, Print Maker.